Armut ist nicht immer sichtbar

Gesellschaft, Politik

Kurz vor der Europawahl werde ich politisch. Vielleicht weil ich gerade ein interessantes Buch über die immer mehr auseinanderklaffende Schere zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen in Westeuropa lese. Vielleicht, weil ich politische Debatten verfolge und mich ärgere wenn es heißt, in Deutschland hätten es alle gut.

Verglichen zu anderen Ländern sind wir tatsächlich ein reiches Land. Zumindest auf dem Papier muss niemand auf der Straße frieren oder hungern. Die Realität sieht doch ein wenig anders aus, denke ich immer, wenn ich durch Berlin spaziere und Obdachlose sehe, die in ihrem Schlafsack unter der Brücke liegen. Sicherlich handelt es sich oft auch um Menschen mit psychischen Problemen. Doch auch sie müssten in einem reichen Land nicht so enden. Laut einer Statistik der Wohlfahrtsverbände leben in Berlin 6.000 bis 10.000 Menschen auf der Straße, 37.000 Menschen leben in Notunterkünften, darunter auch viele Familien mit minderjährigen Kindern. Tendenz steigend. Ein Armutszeugnis für die deutsche Hauptstadt.

In den letzten zehn Jahren sind die Mieten in allen deutschen Großstädten explodiert, die Gehälter aber leider nicht. Die schwächsten Glieder der Gesellschaft bekommen das zu spüren. Das sind zum einen Alleinerziehende, die viel Platz für ihre Kinder brauchen, aber allein die Miete stemmen müssen. Ein Drittel von ihnen gelten bundesweit als armutsgefährdet. Das sind aber auch ältere Menschen mit kleinen Renten, die oft ein Leben lang gearbeitet oder Kinder großgezogen haben, und absurde Mieterhöhungen verkraften müssen. Und die 20 Prozent Arbeitnehmer, die als Niedriglöhner gelten.

Arm ist nicht nur, wer in der S-Bahn bettelt. Arm ist auch die vierköpfige Familie, die trotz zwei Vollzeitstellen weiter in einer 2-Zimmer-Wohnung lebt, weil alles anderes unbezahlbar ist. Arm ist der Rentner, der keine neue Waschmaschine kaufen kann, wenn die alte kaputtgeht. Arm ist die alleinerziehende Mutter die davor Angst, dass die Schuhe ihres Kindes zu eng werden, weil sie kein Geld für neue hat. Arm ist der Arbeitnehmer, der sich keinen Zahnersatz leisten kann, weil er trotz 40-Stunden-Woche keine 2.000 Euro auf der hohen Kante hat. Diesen Menschen sieht man oft nicht an, dass sie arm sind. Aber sie müssen verzichten oder sich verschulden, um sich Grundbedürfnisse zu erfüllen. Wir reden nicht von Urlaub, Vergnügen oder einem Auto. Wir reden von Kleidung, notwendigen Haushaltsgeräten und ärztlichen Leistungen.

Aus wirtschaftsliberalen Kreisen heißt es oft, solche Menschen seien selber Schuld, weil in Deutschland genug Arbeit vorhanden sei. Das ist aber falsch, da diese Menschen oft arbeiten oder gearbeitet haben. Nur können sie vielleicht nicht mehr Vollzeit oder überhaupt arbeiten, weil sie krank sind oder allein für kleine Kinder verantwortlich sind. Oder der Lohn reicht trotz Vollzeitstelle nicht, um alle Bedürfnisse zu decken, weil die Hälfte für die Miete ausgegeben wird. Und das soll gerecht sein? Ich habe persönlich das Glück, studiert zu haben und zumindest durchschnittlich zu verdienen. Es gibt aber nicht nur Akademiker. Es können nicht alle Beamte in höherem Dienst, Chefärzte oder erfolgreiche Rechtsanwälte sein. Die Gesellschaft braucht auch Pfleger, Erzieher, Kassierer und Friseure. Und auch diese Menschen müssen würdig leben können.

Die Annahme, dass höhere Sozialleistungen zwingend eine noch höhere Belastung der mittleren Einkommen bedeuten würde, ist ebenfalls falsch. Im internationalen Vergleich zahlen deutsche Arbeitnehmer tatsächlich im Schnitt viele Steuern und Sozialabgaben. Sie zu erhöhen wäre zumindest für mittlere Einkommen nicht der richtige Weg. Gleichzeitig besitzt der am Vermögen gemessene oberste Zehntel der Haushalte 60 Prozent des Gesamtvermögens, während das untere 30 Prozent nichts oder gar Schulden hat. Das sind die Menschen, die nichts sparen können, weil die Lebenshaltungskosten ihr ganzes Einkommen auffressen. Sie sind nicht zu dumm zum Sparen, wie oft suggeriert, es geht einfach nicht.

Wie wäre es damit, mal zur Abwechslung Vermögen zu besteuern? Wie wäre es mit einer höheren Besteuerung von Konzerngewinnen und Dividenden, und zwar EU-weit? Und wie wäre es mit einem höheren Mindestlohn, der verhindern würde, dass Menschen zu armen Arbeitnehmern und später armen Rentnern werden?

Letztendlich glauben viele irrtümlich, dass die Reichen nichts davon hätten, ihr Geld zu verteilen. Das stimmt aber nicht, und ein Blick in andere Länder zeigt es. Auch Reiche möchten sich frei bewegen, ohne abgestochen oder erschossen zu werden. Rutschen Menschen in die Armut und die Obdachlosigkeit, steigt aber die Kriminalität. Unternehmen möchten gut ausgebildete Fachkräfte. Arme Kinder haben jedoch ein viel höheres Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Viel Potential, das verloren geht. Und schließlich möchten alle die Kosten für die Gesellschaft so niedrig wie möglich halten. Gefängnisse, Polizisten, Einrichtungen für Drogenabhängige und Alkoholiker, sowie Sozialarbeiter kosten aber viel Geld. Das kann man vermeiden, indem jedes Kind von Anfang an die Chance hat, vom Wohlstand seines reichen Landes zu profitieren.

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